Zarte Farbinseln schweben über flächige Formen, flankieren bewegt
schillernde Konturen, die Körper umschreiben. Andeutungen von Schädel
und Rumpf in verschiedenen Perspektiven zeichnen sich ab. Grate von
weißer Farbmasse deuten Schultern und Arme an. Punkte könnten Augen
darstellen. Eine dunkle Fläche ließe sich als Teil eines Haarschopfs
deuten. Zugleich stehen Formen und Flächen für sich selbst. Die Farbe
verweist in pastosem Auftrag und mit schrundiger Textur auf ihre eigene
Stofflichkeit.
Im Mittelpunkt von Regina Hennens Kunst steht der sichtbare Mensch.
Auch wenn sich das in der Betrachtung ihrer Bilder nicht unmittelbar
erschließen mag, sind der Ausdruck eines Gesichts und der Auftritt eines
Körpers die zentralen Themen der Bremer Malerin. Dabei nutzt sie ihre
künstlerischen Mittel als Kontrapunkt zum alltäglichen Umgang mit der
Präsenz eines Gegenübers. Sie scannt Körper nicht nach allgemeinen
Charakteristika und uniformen Kategorien ein. Vielmehr tastet Regina
Hennen in ihren zart changierenden Arbeiten die Erscheinung von
Individuen behutsam ab. Sie umkreist in prozesshaft angelegten
Kompositionen nicht nur Folgen von Begegnungen, sondern auch
Varianten des Zusammentreffens, das heißt die Veränderungen im
Modus und in der Qualität der Wahrnehmung einer Person und Situation.
Regina Hennens Interesse bei ihrer Bildnis-Variante gilt nicht so sehr
einer konsistenten psychologisierenden Erschließung eines Menschen.
Sie widmet sich in allmählicher und gestalterischer Auslotung eher den
Annäherungsweisen selbst und problematisiert Nähe als eine
Existenzform und ästhetische Zielgröße. Sie sieht die äußere
Erscheinung der Anderen als Spiegelung und Projektion in mehrfacher
Hinsicht: „Ihr Interesse gilt den Gesichtern der Person gegenüber, in
Beobachtung und Erinnerung, als Imagination des eigenen Selbst oder
als Fremdes in mir“, formuliert Marion Bertram. In der Auflese des
Flüchtigen und Fragmentarischen, des Fließenden und Fragilen, wodurch
unsere Wahrnehmung anderer Menschen in der Regel gekennzeichnet
und damit einer finalen Fixierung entzogen ist, erweist sich die
Zeitgenossenschaft von Hennens Kunst. Sie schließt an aktuelle
Begegnungs- und Beobachtungsweisen an.
Der Titel einer ihrer Ausstellungen “What‘s more than maybe“ lässt sich
nicht nur als Verweis auf den Reichtum von Möglichkeiten verstehen, aus
dem der moderne Mensch in vielerlei Hinsicht schöpfen kann. Vielmehr
kann das Motto als Formel für heutige Existenzform, Wahrnehmungs- und
Empfindungsweise verstanden werden. Zum anderen bringt die Malerin in
ihren Bildern die von der jeweiligen Epochensignatur weitgehend
unabhängige Variationsbreite und Wandlungsfähigkeit von Gesichtern
und Gesten zum Ausdruck. Diese Wechselfälle lagern sich in Hennens
Bildern in einer Vielzahl von Schichten ab. In den meisten Arbeiten ist das
Ausgangsmotiv kaum mehr erkennbar, dennoch wirkt es in die darüber
liegende Ebene hinein. Manchmal atmosphärisch, manchmal, indem die
übermalten Konturen das abstrahierend flächig-farbige Geschehen erst
anstoßen.
Indem die Künstlerin ihren Arbeiten die Wandelbarkeit körperlicher
Präsenz und den Prozesscharakter von Wahrnehmung mit
vielschichtigem Bildauftrag einschreibt, befördert sie den Prozess zu
einem wesentlichen Element der Komposition. Ihre Arbeiten zielen nicht
auf eine plastisch-perspektivische Raumillusion. Bildtiefe oder eher
bildliche Tiefengründigkeit stellt sich vielmehr durch die Anlagerung
verschiedener miteinander korrespondierender Flächen ein. Dabei ist
nicht Ausformulierung und Klärung das Ziel, sondern der Aufbau eines
weiten, einer Bildpoesie verpflichteten Deutungsraumes mit
verschiedenen Zugängen. Regina Hennens aktuelle Werke sind nicht nur
die malerische Niederschrift wechselnder Wirklichkeitsausschnitte und
Wahrnehmungen, sondern stellen auch eine Schichtung verschiedener
Werkphasen dar. In ihren Übermalungen inszeniert die Künstlerin
Begegnungen mit früheren Sichtweisen und Gestaltungsformen. So füllt
auch angelagerte eigene Schaffenszeit den Bildraum.
Viele Bilder bauen buchstäblich auf vorangegangene Serien auf. Regina
Hennen hat in mehreren künstlerischen Techniken sehr unterschiedliche
Bildsprachen formuliert. Wer an ihre Grafik in Grundfarben oder auch an
frühe starkfarbige Bildnisse denkt, könnte die aktuellen Werke als einen
Bruch und Übermalungen wie Ausradierungen verstehen. Doch neben
dem Festhalten am Thema erscheint auf den zweiten Blick auch der
formale Weg eher als Weiterentwicklung. Die verschiedenen
künstlerischen Techniken und Werkepochen scheinen sich wechselseitig
zu befruchten. Der geplante Aufbau in der Siebdrucktechnik schlägt sich
in der Malerei nieder, die weder spontan noch gestisch erfolgt.
Dass an die Stelle der Farbintensität in den Drucken eine meist
aufgehellte, von Misch- und Schichtungstönen geprägte Palette getreten
ist, ändert nichts an der Eindringlichkeit der Arbeiten. Die Schlussschicht
bewirkt keine Eintrübung der Wahrnehmung, sondern ist eher eine
Auffaltung und Auffächerung, eine Aufhellung und Erhellung. Der Blick
wird durch Verschleierung aufgerüttelt. Das Auge dockt mit Entdeckungsund
Freilegungsehrgeiz an der Undeutlichkeit und Verunklärung an. Es
taucht umso intensiver in Farbe und Formen ein, spürt die Patina und
Aura und erspürt im Diffusen die differenzierte, ausbalancierte
Gestaltgebung. Gerade angesichts solcher mit Referenzen zur
Körperlichkeit gespickten Unschärfen schält sich eine spezifische
Präzision der Beobachtung und eine besondere Empfindungstiefe heraus.
Detlef Stein hat in einem Katalogbeitrag über Regina Hennen vom
tänzerischen Charakter ihrer Kunst geschrieben. Ich finde diese
Charakterisierung äußerst zutreffend. Der Tanz dockt an der körperlichen
Präsenz eines Gegenübers an, sein Ausdrucksmittel ist der Körper selbst.
Tänzerisches Auftreten und Aufeinandertreffen vollziehen sich in einem
Raum, der Körper prägt und von Körpern geprägt wird. Tanz ist im
Gegensatz zur Malerei und parallel zur Musik eine „Zeitkunst“. Formen
und Figuren fließen, eine Fixierung ist im besten Sinne fragwürdig.
Gerade aus der Folge verschiedener Momente eines aufgefächerten
Darstellungs- und Deutungsspektrums resultiert das ästhetische Ereignis.
Hennen baut Bildräume, in denen die Präsenz von Körpern dem Auge
tendenziell vorenthalten wird und dennoch spürbar, fast greifbar ist. Sie
hält in ihren Bildern Momente des Übergangs fest. Sie hält ihre Bilder auf
der Schwelle zwischen figürlichem Bezug und Abstraktion, zwischen
Aufscheinen und Verflüchtigung, schwebender Leichtigkeit und dem
offenkundigen Bestreben um eine Formulierung, einem Bekenntnis zur
Farbe. Sie hält den Moment, in dem erzählerische Gehalte aufzutauchen
scheinen und sich doch gleich wieder in Form- und Farbfluss auflösen.
Schichten über den schemenhaften Figuren überlagern und durchbrechen
eine potenziell in sich geschlossene Gestalt und ein mögliches
konsistentes Geschehen und eröffnen damit einen poetischen Raum. Die
Farbe ist vom Gegenstand abgekoppelt. Pastellene Punkte und
Kreisformen beleben und dynamisieren das Bild. Sie umspielen
schemenhafte Figurationen, die aus puren Flächen zusammengefügt
sind, wie farbige Flocken und bilden einen Klang, der das figürliche
Geschehen begleitet, nicht illustriert. Unsere Blicke sind auf das
Geschehen unter der Oberfläche gelenkt. Ein Ortsbezug wird ausgesetzt
zugunsten einer imaginären Räumlichkeit mit Transitcharakter, die von
Andeutungen und Umdeutungen genährt wird.
In einem Zeitungsartikel über Regina Hennen ist die Künstlern mit den
Worten zitiert: „Vielen Dank auch an alle Gesichter!“, die sie als Spiegel
der Seele begreife. Sie verweist auf die Inspiration durch den
Gesichtsausdruck eines Menschen als „Momentaufnahme, Erinnerung
oder Gedankensplitter“. „Wo immer der Mensch im Bild erscheint, steht
das Gesicht im Mittelpunkt. Gleichzeitig hat das Gesicht in seiner
Lebendigkeit noch allen Versuchen widerstanden, es auf Bilder
festzulegen“, heißt es in einem Begleittext zu der jüngsten Publikation des
Kunsthistorikers Hans Belting über das Porträt. Regina Hennen zeichnet
sich auch dadurch aus, dass sie diese archaische und anarchische
Widerständigkeit des Vitalen zum Bildthema macht.
Dr. Rainer Beßling